Als meine Mutter ihre erste Chemotherapie erhielt, stand ich frühs weinend am Badezimmerspiegel beim Zähne putzen. Ich hatte das Gefühl, mich zwischen meinen Kindern, die damals drei und fünf Jahre alt waren, und meiner Mutter entscheiden zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich nur noch im Modus des Funktionierens.
Ihre fortschreitende Demenz nahm uns Jahr für Jahr mehr in die Pflegeverantwortung, und einige Wochen zuvor hatte sie eine Krebsdiagnose erhalten. Die Demenz war uns zum ersten Mal bei gemeinsamen Spaziergängen mit unserem ersten Kind aufgefallen. Immer mal wieder trafen wir im Park frühere Arbeitskolleginnen meiner Mutter, die sie nicht erkannte. Als zwei Jahre später unser Sohn auf die Welt kam, waren die Probleme bereits unübersehbar und ich übernahm die gesetzliche Betreuung für sie. Mit dem Baby im Schlepptau absolvierte ich Termine bei Behörden, Ärzten und Ämtern wie Neurologin, Amtsärztin, Betreuungsgericht, Hausarzt. Nie reichte die Zeit für all den Papierkram, das Kümmern um klein und groß, die nächsten beruflichen Schritte. Immer hinkte ich hinterher und konnte dem Spagat zwischen meiner Familie und meiner Mutter kaum gerecht werden. Es waren viele Entscheidungen zu treffen, Anträge zu stellen, Unwägbarkeiten zu berücksichtigen. Seinerzeit waren kognitive und psychische Beeinträchtigungen wie Demenzerkrankungen noch nicht innerhalb der Pflegeversicherung verankert. Die Mutter konnte sich ja schließlich noch alleine kämmen und anziehen. Das hieß für mich, es gab zunächst weder Pflegegeld, noch einen Rentenanspruch für die Übernahme der Pflegeverantwortung. Später wurde für diese Erkrankungen die Pflegestufe Null eingeführt und grundlegende Änderungen brachte schließlich das zweite Pflegestärkungsgesetz von 2017, das nun in Pflegegrade einteilt und pflegende Angehörige besser unterstützt.
Als es zunehmend schwieriger wurde und meine Mutter engmaschiger betreut werden musste, besuchte ich mit ihr einige Pflegetagesstätten. Der Jüngste war inzwischen im Kinderwagen dabei. Als ich sie dann zum ersten Mal in eine solche Einrichtung brachte, war es ein bißchen so, als hätte man sein Kind gerade zum ersten Mal im Kindergarten abgegeben. An ein drittes Kind, das ich mir damals sehr gewünscht hatte, war unter solchen Umständen in keiner Weise zu denken. Die zeitliche und emotionale Überforderung forderte einen gesundheitlichen Preis. Wenn ich mit meiner eigenen Hausärztin auf meine verschiedenen Aufgaben und Rollen schaute, fanden wir ein einziges Feld, das ich hätte abspecken können: Meine beruflichen Ambitionen. Hätte ich dies getan, wäre es mir aber erst recht schlecht gegangen, denn meine berufliche Identität habe ich mir als Arbeiterkind Schritt für Schritt selbst aufgebaut. Also brachte ich Opfer, versuchte, mit weniger Schlaf auszukommen und strich die Freizeitbeschäftigungen zusammen.
Diese Schwierigkeiten der Sandwichkohorte sind nicht bei den politisch Verantwortlichen angekommen. Im jüngsten Dossier zur Sorgearbeit (Kinder, Haushalt, Pflege – wer kümmert sich? BMFSFJ 2020) sind solche Familien mit keiner Silbe erwähnt. Erziehungs- und Pflegeverantwortung werden nach wie vor als zeitlich hintereinander gestaffelte Zeiten gesehen. Dabei werden mit dem demografischen Wandel immer mehr Familien mit der Gleichzeitigkeit dieser Lebensphasen konfrontiert sein. Auch die Bedürfnisse von Eltern von Kindern mit Behinderung laufen unter dem Radar. Das macht mich wütend. Denn gleichzeitig wird das Postulat der Eigenverantwortung hochgehalten. Fragt ihr euch nicht manchmal, wie Frauen, die 2/3 Sorgearbeit und 1/3 Erwerbsarbeit verrichten, ihr längeres Leben mit ihren geringen Rentenansprüchen finanzieren und woher zum Beispiel alleinerziehende Frauen das Geld für ihre eigenverantwortliche Altersversorgung nehmen? Gut, dass es Einzahlpläne für Fonds und ETF's gibt – und tolle Finanzbildungsinitiativen für Frauen, aber das ist ein anderes Thema. Dennoch kann es, analog zum magischen Dreieck der Geldanlage, in dem Rendite, Sicherheit und Liquidität nie gleichzeitig verwirklicht werden, unter bestimmten Voraussetzungen für Frauen schwierig bleiben, ihre Erwerbs-, Sorge- und Finanzbiografie zufriedenstellend zu synchronisieren.
Nach wie vor handelt jede individuelle Familie ihre Vereinbarkeitsproblematiken selbst aus. Familien übernehmen in vielfältiger Weise Verantwortung und leisten einen gesellschaftlichen Beitrag. Wenn nicht alles glatt läuft und Krankheiten, Behinderungen, Scheidungen oder berufliche Brüche auftauchen, gibt es für die Hauptsorgepersonen kaum Wege aus den strukturellen Einbahnstraßen. Die durchgängige männliche Erwerbsbiografie ist seit vielen Jahrzehnten die Grundlage von Sozialversicherung und Steuergesetzgebung. Hier hat es die Politik versäumt, längst überholte Gesetze an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Auch die Unternehmen kommen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht in ausreichendem Maße nach. Abweichungen, Lücken, Brüche im CV? Alles individuelle Entscheidungen! (Ironie off). Die Besonderheiten weiblicher Erwerbsbiografien dürfen nicht länger als Malus gesehen werden, ebenso sollte das gendersensible Lesen eines Lebenslaufs längst eine Selbstverständlichkeit in den Personalabteilungen sein. Sonst sind all die Hochglanzbroschüren zu Diversität und Familienfreundlichkeit eine Farce. Etwas mehr Ressourcenorientierung bitte!
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Prof. Dr. Jutta Allmendinger sprach mir gerade in einem sehr lesenswerten Interview bei Edition F aus dem Herzen:
»Sorgende und pflegende Menschen im Stich zu lassen,
ist wirklich ein diskriminierender Akt«
Jutta Allmendinger
Ich freue mich sehr über das zweite Führungspositionengesetz und damit die Vorstandsquote. Sie ist ein wichtiges Signal für Aufbruch, Zukunftsfähigkeit und Geschlechtergerechtigkeit. Jetzt kommt Bewegung in die Führungsetagen und #Thomaskreislauf und #Hansbremse haben hoffentlich bald ein Ende. Aber es gibt noch viele weitere Baustellen auf dem Weg zur Gleichstellung, wie Ehegattensplitting, ungleiche Bezahlung, ausbaufähige Infrastruktur, überholte Rollenbilder und unsägliche Minijobs. Auch die Folgen der ungleich verteilten Lasten der Coronakrise können wir erst in der Retrospektive gänzlich erfassen. Nicht intendierte Handlungsfolgen zeigten sich im Fall des geänderten Unterhalts- bzw. Scheidungsrechts oder der Einführung von Minijobs ebenfalls erst rückwirkend. So erweist sich Mutterschaft seit vielen Jahren als ein großes biografisches Risiko – vor allem finanziell und insbesondere für die Frauen der späten Babyboomergeneration und der Generation X. Es ist konsequent und überfällig, die Aufnahme des Diskriminierungsmerkmals Fürsorgeverantwortung in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) einzufordern. Diesen sehr konstruktiven Vorschlag hat die großartige Initiative Proparents um die Fachanwältin für Arbeitsrecht Sandra Runge zum Jahresbeginn angestoßen.
Wir müssen laut bleiben und für unsere Anliegen einstehen. Das macht sonst keiner für uns. Zu viele Mütter landen beruflich im Abseits. Mit gestutzten Flügeln, kleingehaltenen Ambitionen und versperrten Verwirklichungschancen kenne ich mich aus, seit ich mit Wiedereinsteigerinnen arbeite. Die Biografieforschung hat dafür den Begriff des ungelebten Lebens geprägt. Leider hat sich in den letzten Jahren nicht wirklich viel verändert. Im oben angeführten Beitrag sprach Jutta Allmendinger nun angesichts der pandemiebedingten Folgen von einer großen Spreizung von ungleichen Lebensentfaltungschancen.
Wir reden hier NICHT über individuelle Entscheidungen, sondern über strukturbedingte Fahrwasser. Wir brauchen nach wie vor einen Paradigmenwechsel zur gerechten Verteilung von Sorgearbeit, Entgeltgleichheit, Anerkennung von Sorgearbeit als gesellschaftliches Fundament, flexible Zeitbudgets für Familien, fürsorgliche Unternehmen und Organisationen, bessere Arbeitsbedingungen in Careberufen – all das fordert übrigens die Equalcareday Bewegung im Equal Care Manifest. Unterzeichnen erwünscht!
Und es lohnt sich, über die eigenen Werte nachzudenken. Kennt ihr eure fünf wichtigsten persönlichen Werte? Nehmt euch mal die Zeit, darüber nachzudenken! Je nach Lebenssituation gewichten wir unsere Prioritäten anders. Nicht alle Pläne, die wir schmieden, gehen auf, an Weggabelungen müssen wir uns wieder neu entscheiden. Wir sind inzwischen im elften Jahr der Pflegeverantwortung. Zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater für sieben Jahre auf meine Unterstützung angewiesen. Gleichzeitig erkrankte die Schwiegermutter. Sie wurde bis zu ihrem Tod viele Jahre lang sehr liebevoll durch den Schwiegervater betreut. Die Pflegebelastung forderte ihren Preis, seine Kraft reicht nicht mehr für die Eigenständigkeit im Alter, er sitzt inzwischen im Rollstuhl. Ich hoffe, es kommt keine Larmoyanz durch, denn wir sind kein Einzelfall, schaut euch um!
Wenn ihr selbst betoffen seid, findet ihr Unterstützung bei einer Pflegeberatung. Eine gute Übersicht über Hilfen für pflegende Angehörige und Leistungen der Pflegeversicherung mit weiterführenden Links zu bundesweiten Pflegestützpunkten gibt die Zusammenstellung der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.
Die Strukturbedingungen unseres Wirtschaftssystems weisen eine unhaltbare Schieflage auf und beruhen auf der Ausbeutung von Frauen. Hierzu hat die Familiensoziologin Dr. Sonja Bastin auf der Equal Care Day Seite einen sehr treffenden Artikel verfasst: Wie Eltern, Kinder und Pflegende systematisch missachtet werden. MUST READ!
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Wir unterstützen Frauen dabei, ihre Finanzen zu einer biografischen Ressource werden zu lassen!